Grafik: Peter Weber

Grafik: Peter Weber

"Wir können uns noch besser auf Krisen vorbereiten!"

Das Feuerwehrfahrzeug nähert sich auf dem Rettungsweg und hält am Schulgebäude. Aus einer oberen Etage beobachten Lehrkräfte, wie ein Feuerwehrmann im Drehleiterkorb emporschwebt. Entwarnung: Glücklicherweise brennt es in der Landrat- Gruber-Schule Dieburg nicht. Vielmehr gilt der fingierte Einsatz dem Kollegium. Demonstriert werden soll, wie wichtig freie Evakuierungswege im Ernstfall sind. "Wegen der Parkplatznot sind zugestellte Rettungswege bei uns ein Dauerthema", erklärt der stellvertretende Schulleiter Peter Farr. Das Verhalten im Brandfall zu üben ist an Schulen Routine.

Doch wie sieht es mit anderen Krisensituationen aus, die ebenso plötzlich auftreten können und noch deutlich belastender als die Folgen eines Feuers sein können? Was tun, wenn plötzlich ein Schüler verstirbt und ein Platz in der Klasse leer bleibt? Wie reagiere ich als Lehrkraft auf eine Suizidankündigung in der Klasse? Lassen sich Warnsignale zielgerichteter Gewalttaten bereits im Vorfeld erkennen? Und kann Krisenprävention helfen, derartige Taten möglichst zu vermeiden?



Um Antworten auf diese Fragen zu finden, lud die Dieburger Schule die Kriminalpsychologin Karoline Roshdi zum Pädagogischen Tag ein. Die Amokforscherin empfiehlt Schulen ein Krisenmanagement, das im Bereich der Prävention nach den drei Prinzipien des Bedrohungsmanagements arbeitet: Erkennen, Einschätzen, Entschärfen. Ziel ist, die Sensibilität für Warnsignale drohender Gewalttaten in Schulleitungen und Kollegien zu erhöhen. Denn eine Studie zeigt, dass es bei allen schulischen Amoktaten in Deutschland Kommunikationen über bevorstehende Taten gegeben hat. "Man spricht vom so genannten ‚Leaking‘", sagt die Wissenschaftlerin.


Erkennen, Einschätzen, Entschärfen

Mit diesem Begriff werden Äußerungen und Ankündigungen im Vorfeld einer Gewalttat bezeichnet. Das kann heißen, dass sich Jugendliche erkennbar mit Gewalt oder Gewalttätern identifizieren, Todeslisten erstellen oder sogar eine Tat mit Ort und Datum ankündigen. Erfahrungen haben gezeigt, dass dieses Wissen über Gefährdungen zwar unter Jugendlichen kursiert, doch leider oft nicht zu Lehrkräften vordringt. Um diesen "Code of Silence" zwischen Erwachsenen und Jugendlichen zu überwinden, sind vertrauensvolle Beziehungen sehr wichtig - es braucht ein offenes und gutes Schulklima.

"Die Jugendlichen sollten das Gefühl haben, dass es im Kollegium Ansprechpartner gibt, die sich kümmern und helfen. Wenn diese Offenheit da ist, dann steigt auch die Bereitschaft, über das risikobehaftete Verhalten eines Mitschülers zu sprechen", sagt Roshdi. Ein guter Draht zwischen Kollegium und Schülerschaft ist also aktive Krisenprävention. Und wenn Schulen den Grundsatz "Wir schauen hin, wir kümmern uns!" berücksichtigen, rücken auch mögliche andere krisenhafte Entwicklungen von Schülerinnen und Schülern stärker in den Blick.

Geeignete Lernprogramme können die Exekutivfunktionen von Jugendlichen mit leichtem Handicap verbessern. Und es kann auch durchaus Sinn machen, dass Schülerinnen und Schüler gezielt Internetplattformen nutzen, um an gemeinsamen Unterrichtsprojekten zu arbeiten.

Aus Sicht der Kriminalpsychologin zählt ein lebendiges schulisches Krisenteam - intern wie extern gut vernetzt - zu den wichtigsten Bausteinen in der Krisenprävention. Ihr Vortrag hat an der Dieburger Berufsschule viel Nachdenken ausgelöst. Die Landrat-Gruber- Schule entschloss sich, ihr Krisenteam weiterzuentwickeln. "Wir können uns noch besser auf Krisen vorbereiten", sagt Peter Farr. Wöchentlich treffen sich Lehrkräfte, Schulsozialarbeit und Schulleitung. Ein Ziel dieser Arbeit ist, als internes Netzwerk zunehmend mehr kompetente Kolleginnen und Kollegen in die Präventionsarbeit und Betreuung von Akutfällen einzubeziehen.

Was die externe Vernetzung des Krisenteams angeht, ist die Schule bereits initiativ geworden. "Wir haben offensiv den Kontakt zu Polizei, Feuerwehr, Schulpsychologie und Jugendamt gesucht, Gesprächspartner eingeladen und kooperieren sehr gut", erzählt Farr. Der stellvertretende Schulleiter ist froh, dass das Thema Krisenprävention mittlerweile so große Bedeutung hat. Er sieht unter den gut 2000 Schülerinnen und Schülern "viel Krisenpotenzial."

Inzwischen hat das Krisenteam einen ganzen Ideenkatalog zusammengetragen. Enthalten sind Maßnahmen zur allgemeinen Gewaltprävention, Krisenprävention und -intervention sowie zu baulichen Vorkehrungen. Viele Vorschläge haben zum Ziel, das soziale Miteinander an der Landrat-Gruber-Schule zu verbessern.

Kriminalpsychologin Karoline Rosdhi ist freiberufliche Mitarbeiterin des Darmstädter Instituts für Psychologie und Bedrohungsmanagement. Sie forscht seit vielen Jahren auf dem Gebiet der zielgerichteten Gewalt an Schulen.

 

 

Handlungsanweisungen für Krisenfälle
Ein weiterer Punkt ist, Lehrkräfte bei krisenhaften Entwicklungen unter Schülerinnen und Schülern handlungsfähiger zu machen. So stellt das Krisenteam ein Handbuch über Gefährdungslagen von Jugendlichen, zum Beispiel bei drohendem Suizid, psychischen Störungen oder Drogenmissbrauch, für das Kollegium zusammen. Grundlage ist der Leitfaden "Handeln in Krisensituationen" des Hessischen Kultusministeriums.

Ein Ergebnis dieser Arbeit tragen die Lehrkräfte täglich in ihren Schultaschen. Das signalrote laminierte Blatt ist eine Checkliste und bietet Handlungsanweisungen für Krisen, Gewalt und Amok. Neben der mobilen Notrufnummer der Schulleitung ist auf der Rückseite des Dokuments ein Lageplan des weitläufigen Schulgeländes abgebildet.

Die gemeinsame Beschäftigung mit existenziellen Krisen hat das gegenseitige Vertrauen im Krisenteam wachsen lassen. Sie bewerten ihre Arbeit mit den ernsten Themen durchaus positiv. Die Weiterentwicklung des Krisenteams ist ein Zeichen dafür, dass sich das Berufsschulzentrum auch den unliebsamen und oft verdrängten Aspekten des Schulalltags stellt. Lehrer Christian Wolf: "Ob es um Drogen oder Gewalt geht, ich wünsche mir eine Schule, die nicht vertuscht, sondern einen offenen Umgang mit Problemen pflegt."

Geplante Präventionsmaßnahmen an der Landrat-Gruber-Schule
Allgemeine Prävention:

  • Es gibt eine Willkommenskultur mit Einführungswochen und erlebnispädagogischen Veranstaltungen.
  • Der positive Bezug aller zur Schule wird gestärkt.
  • Partizipation: Alle Schülerinnen und Schüler werden bestmöglich in das Schulleben integriert und werden an Entscheidungen beteiligt.
  • Das Leitbild der Schule wird gelebt, Lehrkräfte sind aktive Vorbilder.
  • Das Regelwerk der Schule wird kommuniziert und konsequent pädagogisch eingesetzt.
  • Die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler wird bewusst gefördert.
  • Alle Schülerinnen und Schüler bekommen einen Coach/ Tutor aus dem Schulkollegium.
  • Mit dem internen Beratungsnetzwerk bietet die Schule eine Anlaufstelle für Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte an.

  • Das Gebäude ist freundlich und bietet attraktive Arbeits- und Aufenthaltsbereiche.
  • Schülerinnen und Schüler werden an der Ausgestaltung beteiligt.
  • Aus Sicherheitsgründen werden Kennzeichnungen von Unterrichtsräumen auch im Inneren der Räume an den Türen angebracht.
  • Ein gut funktionierendes Kommunikationssystem wird angeschafft, um den Schullalltag besser zu organisieren.
  • Es gibt regelmäßige Sicherheitschecks an Gebäuden, Ergebnisse werden dem Schulträger gemeldet.
  • Eindeutige Kennzeichnung von Schulgebäuden und Eingängen zur besseren Orientierung für Rettungskräfte.


Krisenprävention:

  • Alle Kolleginnen und Kollegen sind für Gefahrenpotenziale sensibilisiert und handlungsfähig.
  • Es gibt ein organisiertes und bekanntes Krisenmanagement- System. Die entsprechend fortgebildeten Kolleginnen und Kollegen sind nach innen und außen vernetzt.
  • Das Krisenteam entwickelt das Krisenkommunikationskonzept kontinuierlich weiter und sorgt für die nötigen Fortbildungen.
  • Das erweiterte Krisenteam trifft sich mindestens zwei Mal im Jahr zur Aussprache und gegebenenfalls zur Umorganisation. Es arbeitet mit externen Partnern zusammen.

Weiterführende Literatur

  • Müller-Staske, Marion: Prävention und Intervention bei schulischen Krisen. In: Helmolt Rademacher/Marion Altenburg-van Dieken (Hg.): Konzepte zur Gewaltprävention in Schulen. Prävention und Intervention. Cornelsen, Berlin 2011. S. 145-155.
  • Robertz, Frank J./Wickenhäuser, Ruben Philipp: Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule. 2. Auflage, Springer Heidelberg 2010.
  • Handeln in Krisensituationen. Ein Leitfaden für die Schule. Hg. vom Hessischen Kultusministerium und Hessischen Ministerium des Innern und für Sport. 2. Auflage, Wiesbaden 2011.
  • Notfallmanagement nach psychisch belastenden Extremsituationen am Arbeitsplatz. Herausgegeben von der Unfallkasse Berlin. Download unter www.unfallkasse-berlin.de, Suchwort: Notfallmanagement.
  • Trauma - was tun? Damit Sie sich nicht mehr so hilflos fühlen müssen. Informationen für akut betroffene Menschen und deren Angehörige. Herausgegeben von der Unfallkasse Berlin. Download unter www.unfallkasse-berlin.de, Suchwort: Trauma.

 

AUTOR

René de Ridder ist Redakteur bei DGUV pluspunkt.

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