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„Ein Suchtproblem bemerkt man oft zu spät“

Frau Jung, sind Lehrkräfte besonders suchtgefährdet?
Ja, wie viele Personen in Berufen, die sich durch den Umgang mit anderen Menschen auszeichnen. Lehrkräfte können die Arbeit häufig nicht vom Privatleben abspalten. Außerdem haben sie wenig langfristige Erfolgskontrolle oder Feedback im Sinne eines erfolgreich abgeschlossenen Projekts. Und natürlich ist es einfach anstrengend, Kinder zu erziehen. Wie groß die Belastung über viele Jahre ist, merkt man erst, wenn man ihr unterliegt.

 

Wie entsteht daraus eine Sucht?
Die Betroffenen suchen nach Entlastung. Sie trinken zum Beispiel abends zuerst nur ein Glas Rotwein, um besser schlafen zu können. Doch ein solcher regelmäßiger Konsum kann in eine Abhängigkeit führen. Mehr als 80 Prozent meiner Klienten sind alkoholabhängig. Der Rest nimmt andere Substanzen oder Medikamente.

 

Wie äußert sich das Suchtproblem in der Schule?
Man bemerkt es in der Regel zu spät. Besonders der Missbrauch von Alkohol ist häufig schon ziemlich weit gediehen, bis auffällt, dass sich Betroffene über mehrere Jahre hinweg in ihrer Persönlichkeit verändert haben, ihre Arbeit nicht mehr ordentlich machen, unzuverlässig werden. Außerdem kann deutlich werden, dass jemand soziale Kontakte abbricht, zunehmend vereinsamt oder ungepflegt ist, sich sogar eine Verwahrlosungstendenz zeigt. Diese Lehrkräfte melden sich auch häufig gerade am Montag krank, weil sie Probleme haben, ihren Alltag zu strukturieren. Dahinter können natürlich auch andere Ursachen als eine Suchterkrankung stecken, zum Beispiel eine psychische oder körperliche Erkrankung. Nur selten ist die Situation ganz klar, zum Beispiel wenn ein nachweisbares Fehlverhalten unter Alkoholeinfluss im Unterricht vorliegt, eventuell sogar eine Handgreiflichkeit.

Was sollte die Schulleitung tun, wenn sie ein Suchtproblem im Kollegium vermutet?
Als Vorgesetzte oder Vorgesetzter ist man aufgrund der Fürsorgepflicht für Lehrkräfte verpflichtet zu handeln. Wichtig ist, das direkte Gespräch zu suchen und Betroffene mit dem Verdacht zu konfrontieren. Auch dann, wenn einem nur Beobachtungen zugetragen wurden und man das Ganze nicht selbst erlebt hat. Ich empfehle, die Hinweise frühzeitig schriftlich zu sammeln.

 

Wenn die Hinweise aber nicht eindeutig sind, besteht dann nicht die Gefahr, jemandem falsche Vorwürfe zu machen?
Ja, viele Schulleiterinnen und Schulleiter handeln deshalb nicht. Doch wenn sich die Hinweise von Kollegen, Eltern oder Schülerinnen und Schülern über einen längeren Zeitraum verdichten, ist meistens auch etwas an dem Verdacht dran. Dann ist es wichtig, bald ein sachliches Gespräch unter vier Augen zu führen. Denn das Problem spitzt sich in der Regel zu. Die Schulleitung hat ihre Fürsorgepflicht zu erfüllen. Schlecht ist, wenn es zu einem schwerwiegenden Vorfall kommt und die Schulleitung zugeben muss, dass sie nichts unternommen hat. Daher sollte jeder Gesprächsversuch dokumentiert werden.

 

Wie geht man bei solch einem Gespräch konkret vor?
Der Tenor sollte wertschätzend sein, nicht moralisierend. Man kann zum Beispiel sagen: „Wir kennen uns schon sehr lange. Mir fällt auf, dass Sie sich verändert haben. Ich mache mir Sorgen um Sie. Wie stehen Sie dazu?“ Es sollten keine Schuldzuweisungen erfolgen, denn dann blockt der Gesprächspartner ab. Wer sein Anliegen sachlich kommuniziert, hat die größten Chancen, eine vernünftige Antwort zu erhalten.

 

Und welches Ziel sollte das Gespräch haben?
Herauszufinden, ob sich der Betroffene selbst schon Gedanken über seine Situation gemacht hat. Unterstützung dabei anzubieten, die Gesundheit wiederherzustellen. Und zusammen Lösungen zu entwickeln, zum Beispiel die Möglichkeit einer ambulanten oder stationären Therapie.

 

Und wenn eine Diagnose vorliegt?
Dann gibt es zum Beispiel ambulante Behandlungsangebote und stationäre Langzeittherapien, die unterschiedlich lang dauern, je nach Einzelfall.

 

Wie erfolgreich sind diese Therapien?
Das kommt auf den Einzelfall an. Bei Alkoholismus besteht allgemein eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit. Sie sinkt aber, wenn man zur Arbeit geht, ein privates Umfeld hat, das einen unterstützt, und keine weitere psychische Erkrankung vorliegt. Entscheidend ist auch, ob es einer Lehrkraft gelingt, ein Konzept für die Zukunft zu entwickeln, für das es sich lohnt, gegen die Sucht zu kämpfen. Auch wenn es einen Rückfall gibt, ist das zwar ein Misserfolg. Aber dieser kann und muss therapeutisch aufgearbeitet werden. Erfolg kann nicht heißen, lebenslang gesund zu sein. Das sind alle anderen Menschen ja auch nicht.

 

 

Kann die Schulleitung auch einen Beitrag leisten?
Sie kann Krisenherde oder besondere Stressfaktoren ausmachen und ihnen vorbeugen, zum Beispiel bei der Arbeitsverteilung. Und sie kann umgekehrt herausfinden, was die Persönlichkeit und den Selbstwert stärkt. Suchterkrankte schämen sich unendlich, dass sie ihre Krankheit nicht selbst in den Griff bekommen, und fühlen sich entwertet. Dadurch trauen sie sich oft nicht, selbst etwas vorzuschlagen, das sie gern an der Schule umsetzen würden, zum Beispiel als Englischlehrer eine englische Theatergruppe aufzubauen oder als Musiklehrer eine Big Band. Das könnte die Schulleitung anregen. Denn durch solche Projekte merkt die betroffene Lehrkraft, dass sie doch noch die ist, die sie mal war und sein kann.

 

Das Gespräch führte Nele Langosch, Journalistin und Diplom-Psychologin
redaktion.pp(at)universum.de

 

Zur Person Doris Jung

Lehrerin Doris Jung unterrichtet am Gymnasium Herzogenaurach in den Fächern Deutsch und Evangelische Religionslehre.


Gleichzeitig verantwortet sie mit wöchentlich vier Anrechnungsstunden als zertifizierte Suchthelferin die Suchtgefährdetenberatung für Lehrkräfte und Angestellte an Gymnasien, Fachoberschulen und Berufsoberschulen in Bayern.


Sie informiert und berät Schulleitungen, Betroffene und auch Kollegien zum Thema Sucht und zum Umgang mit Abhängigen bzw. der Suchterkrankung. Bei ihrer Tätigkeit helfen ihr Erfahrungen aus dem ehrenamtlichen Rettungsdienst und der Notfallseelsorge.

Wer steht der Schulleitung und den Lehrkräften bei diesem Vorgehen zur Seite?
Zum Beispiel die Suchtgefährdetenberatung. Oft sind die Positionen festgefahren. Ein Dritter kann feststellen, was vom Verdacht objektiv übrig bleibt. Ich komme direkt an die Schulen und führe meist Gespräche mit der Leitung und der Lehrkraft, einzeln und zusammen. Dabei schauen wir, welche Schritte die Situation verbessern könnten und was therapeutisch notwendig ist. Auch die Schulberatungsstellen einer Region können helfen, sind aber oft nicht auf Suchtprobleme spezialisiert.

 

Sollte die Schulleitung das Kollegium einweihen?
Nein. Keiner hat das Recht zu erfahren, was jemand für ein Problem oder eine Erkrankung hat. Die Gespräche zwischen Schulleitung und Lehrkraft finden immer unter vier Augen statt. Es sei denn, die oder der Betroffene will jemanden hinzuziehen, zum Beispiel den Lebenspartner oder die Lebenspartnerin, jemanden aus dem Kollegium oder der Personalvertretung oder auch einen Anwalt oder eine Anwältin.

 

Wie kann man Betroffenen eine Rückkehr ins Kollegium erleichtern?
Indem man offen mit ihnen bespricht, was sie erwarten wird. Viele sind durch die Therapie unglaublich motiviert und gestärkt. Doch erst wenn sich die Käseglocke der therapeutischen Einrichtung hebt, zeigt sich, ob sie das im Alltag auch erhalten können. Meine Aufgabe ist es, Betroffene in die Realität zurückzuholen und ganz klar zu sagen: „An Ihrer Schule ist über Sie geredet worden und Sie sind immer noch Thema. Nun müssen Sie sich überlegen, wie Sie zu Fragen oder blöden Bemerkungen stehen.“ Viele haben große Angst vor den Fragen der Schülerinnen und Schüler. Ich habe festgestellt, dass man mit Klassen der Oberstufe offen über Süchte sprechen und Erfahrungen austauschen kann. Einige stellen sich auch selbst in das Kollegium und berichten offen von ihrer Sucht und der Therapie. Man muss sich aber im Klaren sein, dass es immer Leute geben kann, die verächtlich reden. Dagegen ist man machtlos.

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