Fotos: grafikdesign-weber.de

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Wo die wilden Kerle wohnten

Ritalin ist eine Pille gegen eine erfundene Krankheit, gegen die Krankheit, ein schwieriger Junge zu sein. Immer mehr Jungs bekommen die Diagnose. Die Pille macht sie still und gefügig. Und abhängig.


Jeder zehnte Junge in Deutschland ist krank. Zu wild und zu laut. Er testet ständig Grenzen. Er kann in der Schule nicht stillsitzen, ist ungeduldig, kann sich nicht konzentrieren, er wird wütend und aggressiv. Er stört. Er provoziert, obwohl er es nicht will, er fühlt sich missverstanden. Er erhält schlechte Noten. Er ist schwierig und anstrengend für Eltern und Lehrer, so schwierig, dass er irgendwann beim Kinderarzt sitzt und die Diagnose bekommt: ADHS, das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom. Dann ist der Junge nicht mehr schwierig, sondern krank.

Für ein schwieriges Kind gibt es Gründe: überforderte Eltern, eine kaputte Familie, unfähige Lehrer, zu viele Computerspiele und zu wenige Kletterbäume. Wenn ein schwieriges Kind für krank erklärt wird, braucht sich niemand verantwortlich zu fühlen: Krankheiten können genetisch veranlagt sein oder Schicksal oder beides. Keiner kann etwas dafür. Wer krank ist, bekommt Medizin. Eine Pille, die gesund macht. Für die wilden Jungs gibt es eine Pille, die sie still und aufmerksam macht: Ritalin.

"Ohne Ritalin bin ich lustiger", sagt Paul, "aber ohne Ritalin kann ich mit den anderen in meiner Klasse nicht mithalten." Seit fünf Jahren legt seine Mutter jeden Morgen die weiße Pille in eine kleine Schüssel neben sein Müsli. "Paul war ein anstrengendes Kind", sagt sie. Sie stellt ihren Laptop auf den dunklen Holztisch im Wohnzimmer und präsentiert Pauls Krankengeschichte als Power-Point-Vortrag: Schulprobleme, Arztbesuche, ein paar routinierte Klicks. Pauls Mutter ist Werberin. Paul sitzt auf der anderen Seite des Tisches und isst ein Wiener Würstchen. Er hat zehn Stunden Schule hinter sich. Er ist jetzt 16.
Von klein an sollte Paul umfassend auf die Leistungsgesellschaft vorbereitet werden. Er kam in einen bilingualen Kindergarten. Es ging ihm nicht gut dort. Trotzdem wurde er auf der Europa- Schule eingeschult: Die Probleme wurden schlimmer. Paul rastete aus, in der Schule, zu Hause. Nach der dritten Klasse reichte es für Paul dann gerade zu einer Sonderschulempfehlung. Seine Mutter fuhr mit ihm ins Krankenhaus und bekam die Diagnose.

Der Spandauer Kinderarzt Ulrich Fegeler kennt das aus seiner Praxis: Oft kommen Eltern mit ihren Kindern zu ihm und wollen die ADHS-Diagnose. Er selbst stellt sie als Kinderarzt nicht aus, sondern schickt Verdachtsfälle zu den Kinder- und Jugendpsychiatern der großen Krankenhäuser. "Ich habe noch niemanden erlebt, der ohne Diagnose zurückgekommen ist", sagt der Kinderarzt. Noch niemanden.

Ulrike Lehmkuhl, Direktorin der Kinderklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, beobachtet seit etwa zehn Jahren eine Inflation von ADHS-Diagnosen. Dass sich das Syndrom tatsächlich ausbreitet, hält sie für unwahrscheinlich: "Das ist schließlich kein Virus", sagt Lehmkuhl. Von zehn Kindern, die mit einer ADHS-Diagnose zu ihr geschickt werden, stellt sie bei neun eine andere Verhaltensstörung oder psychische Erkrankung fest.

Kurz gesagt: 90 Prozent der ADHS-Diagnosen sind falsch. Drei Kriterien müssten für eine richtige ADHS-Diagnose zusammenkommen, sagt Lehmkuhl: Impulsivität, Hyperaktivität und ein Aufmerksamkeitsdefizit. "Und das schon seit dem frühen Kindesalter: ADHS, das in der siebten Klasse plötzlich auftritt, gibt es nicht!"

Noch radikaler sah es der Erfinder von ADHS: der amerikanische Psychiater Leon Eisenberg. In den späten sechziger Jahren hatte er dafür gesorgt, dass die Hippeligkeit und Konzentrationsschwäche, die er bei einigen Kindern feststellte, unter dem Namen ADHS als psychische Erkrankung klassifiziert wurde. Doch als die ADHS-Diagnosen wucherten und die Ritalin-Verschreibungen explodierten, kamen ihm Zweifel. Vierzig Jahre später, kurz vor seinem Tod, gestand Eisenberg dem Wissenschaftsjournalisten Jörg Blech, dass er nicht mehr an ADHS glaubt. ADHS, sagte er, sei "ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung".

Keine Krankheit - ein Deutungsmuster: als psychisch krank wird definiert, was gegen bestimmte Regeln verstößt und von Normen abweicht. Diese Normen sind nicht ein für alle Mal festgelegt, sie können sich verändern. ADHS ist ein Jungen-Syndrom. Jungen bekommen die Diagnose viermal so oft wie Mädchen. Sie sind es, die über die Stränge schlagen und gegen Regeln verstoßen. Wer hat sich verändert? Die Jungen? Die Regeln? "Unsere Systeme sind für Jungen unfreundlich geworden", sagt Gerd Glaeske, Professor für Arzneimittelversorgungsforschung an der Universität Bremen und ehemaliges Mitglied des Sachverständigenrats für Gesundheit. Jungen, so meint er, wollten risikoreicher leben und sich erproben. Dafür fehlten ihnen aber heute die Freiräume. "Jungen versuchen, Grenzen zu überschreiten", so Glaeske, "das gilt in unserem System als auffällig." Die Toleranz für ein Verhalten, das früher selbstverständlich als jungenhaft akzeptiert wurde, hat rasant abgenommen. "Wenn man sagt, dass Jungen stören, muss man auch über die reden, die sich davon gestört fühlen", fordert Glaeske.

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Die Feststellung von ADHS nennt er "Zuschreibungsdiagnosen". Sie werden unter gesellschaftlichem Druck ausgestellt, um die Gabe leistungssteigernder Mittel zu legitimieren. Bei ADHS heißt das in der Regel Ritalin, das aus dem Wirkstoff Methylphenidat (MPH) besteht. Seit Anfang der neunziger Jahre hat sich die in Deutschland verschriebene Menge von MPH explosionsartig vervielfacht: von 34 Kilo im Jahr 1993 auf fast 1,8 Tonnen im Jahr 2010. Das ist mehr als die fünfzigfache Menge. Sie landet in den Körpern von Kindern: erst seit April ist MPH auch für Erwachsene zugelassen.

Für die Pharmaindustrie ist MPH ein Goldesel: Sechs Konzerne bieten das Medikament unter verschiedenen Namen auf dem deutschen Markt an. Das Pharmaunternehmen Novartis, das Ritalin herstellt, machte damit 2010 weltweit einen Umsatz von 464 Millionen Dollar. 2006 waren es erst 330 Millionen Dollar gewesen. Darüber hinaus gibt es eine ganze ADHS-Industrie mit meterweise Literatur und speziellem ADHS-Spielzeug.
Hunderttausende Jungen werden in Deutschland mit Ritalin brav gemacht. Das Mittel ändert ihr Verhalten, den Konflikt löst es nicht. "Das Medikament lindert die Symptome, doch es heilt nicht", sagt Lehmkuhl. Glaeske schätzt, dass etwa 250.000 Kinder in Deutschland Ritalin einnehmen. Andere Therapien werden vernachlässigt. ADHS sei eine Domäne der Arzneimitteltherapie, warnte Glaeske schon vor vier Jahren. Vier von fünf Kindern mit ADHS würden ausschließlich mit Medikamenten therapiert. Dabei sehen die medizinischen Leitlinien begleitende Verhaltenstherapien vor, mit deren Hilfe die Kinder weitgehend auf Ritalin verzichten könnten. Spätestens nach einem Jahr soll versucht werden, das Medikament abzusetzen: ein sogenannter Auslassversuch.
Doch das ist nicht so einfach. Ritalin, das in hoher Dosierung ähnlich wirkt wie Kokain, macht psychisch abhängig.
Wenn Paul die Tablette vergisst, kommt er von der dritten Stunde an nicht mehr mit. Für solche Fälle hat er immer eine Notration Ritalin in seinem Schulranzen. Andere Ritalin-Kinder können ohne Medikament den Stress nicht mehr ertragen. Sie ziehen sich zurück, isolieren sich von ihrer Umwelt. "Wir wissen nicht genau, wie es auf das Gehirn wirkt", sagt Lehmkuhl.
Methylphenidat gilt nicht als Rauschmittel, unterliegt aber dem Betäubungsmittelgesetz, weil es als leistungssteigernde Droge missbraucht werden kann. Und es hat Nebenwirkungen: Schlafstörungen, Essstörungen, Bluthochdruck und vermindertes Wachstum.
Robins Eltern wollen nicht, dass ihr Sohn Ritalin nimmt. "Wir halten unser Kind nicht für krank", sagt seine Mutter. Robin ist zwölf. Er zeigt ein freches Zahnspangenlächeln und blickt dann etwas verlegen in die Runde. Hat er Probleme? Robin zuckt mit den Schultern und sieht seine Eltern an. Geht er gern in die Schule? "Nö!" Seine Lieblingsfächer? "Pause und Ausfall."
Schon sehr früh merkten die Eltern, dass Robin Probleme hat, etwas ohne Anleitung zu tun. Vom Packen der Hockeytasche bis zu den Hausaufgaben. In der zweiten Klasse wurde Robin auf Empfehlung der Lehrer von mehreren Fachärzten durchgecheckt. Er hatte Orangensaft ins Schulaquarium gekippt und nicht auf die Anweisungen der Lehrer reagiert. Die Diagnose: ADS, ein Aufmerksamkeitsdefizit ohne Hyperaktivität. "Heute wird der, der aus der Norm fällt, für krank erklärt", meint seine Mutter. "Als ob Schulversagen eine Krankheit ist."

 

Robin bekam Lern- und Ergotherapien. Dann verlangte der Kinderarzt, Robin solle zur Unterstützung der Therapie Ritalin nehmen. Die Eltern weigerten sich. Der Kinderarzt nannte das "unverantwortlich". Robin bekam keine Therapien mehr. Auch die Nachbarin, deren Sohn seit der ersten Klasse Ritalin nimmt, empfahl das Medikament wärmstens. "Der ist super in der Schule", sagt Robins Mutter über den Nachbarjungen. "Dafür ist er einen Kopf kleiner als Robin", sagt sein Vater. Robins Mutter hält Ritalin für ein Verbrechen an den Kindern. "Wenn ich meinem Kind ein Medikament gebe, damit es in der Schule besser wird, zeige ich ihm doch, dass ich es ändern will. Dann muss mein Sohn doch denken, dass ich ihn ohne Medikament nicht ertragen kann. Wo steht eigentlich geschrieben, dass ein Kind nicht anstrengend sein darf?"

AUTORINNEN

Christiane Hoffmann ist politische Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin,
Antje Schmelcher lebt als freie Journalistin in Berlin.


Die umfassendere Originalversion dieses Artikels
, die in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 12.02.2012 veröffentlicht wurde, kann hier aufgerufen werden.


Eine weitere Meinung über die Rolle von Methylphenidat im Rahmen eines Gesamttherapiekonzepts finden Sie im nachfolgenden Expertengespräch: Chancen und Risiken bei der Einnahme von Methylphenidat.

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