Illustrationen: grafikdesign-weber.de

Dr. Karl-Heinz Imhäuser

"Gefragt ist eine neue Choreografie der Lernräume"

Ob Neu- oder Umbau: Bei Schulbauprojekten geht es nicht um "schönere" Gebäude, sondern darum, bessere Lehr- und Lernbedingungen zu schaffen. "Der Weg dorthin führt über kluge Planungs- und Beteiligungsprozesse", sagt Dr. Karl-Heinz Imhäuser, Pädagoge und Vorstand der Montag Stiftung "Jugend und Gesellschaft", im Gespräch mit DGUV pluspunkt.


Warum plädieren Sie für neue Wege im Schulbau?

Weil eine zeitgemäße Pädagogik nach ihnen verlangt. Die heutige Lernkultur orientiert sich zunehmend weniger an Formen der traditionellen Wissensvermittlung. Frontalunterricht und "Lernen im Gleichschritt" verlieren an Bedeutung. In den Vordergrund rücken die individuellen Lernwege und die Entwicklung der Einzelpersönlichkeit; Schülerinnen und Schüler sollen selbstgesteuert und eigenverantwortlich lernen können. Der Paradigmenwechsel, der Dr. Karl-Heinz Imhäuser sich hier - in unterschiedlichem Tempo - an den deutschen Schulen vollzieht, hat natürlich Auswirkungen auf die Organisation des Lernens. Isolierte Klassenräume, aneinandergereiht entlang langer Flure, werden dem nicht gerecht. Es muss sich also auch die Architektur der Räumlichkeiten ändern.


Könnte man sagen, die tradierte Raumarchitektur behindert geradezu eine zeitgemäße Lehr- und Lernkultur?

Darauf läuft es hinaus. Moderne Pädagogik braucht Raumstrukturen, die verschiedene Formen des Lernens und des Austausches zulassen, zum Beispiel Einzelarbeit, Interaktion, Kooperation in Gruppen, im Klassenverband oder auch jahrgangsübergreifend. Gleichzeitig muss die Lernumgebung dem Bedürfnis nach Rückzug, nach Entspannung oder nach Bewegung Rechnung tragen - je nach Schultyp und Alter der Schülerinnen und Schüler natürlich in anderer Form und Ausprägung. Wenn Schulen jetzt saniert, neu- oder ausgebaut werden, reicht es also nicht, einfach neue Wände hochzuziehen, um mehr Platz zu schaffen. Die Frage muss sein, welche Aktivitäten auf welchen Flächen stattfinden sollen.


Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Nehmen wir ein Beispiel aus dem Bereich des kooperativen Lernens. Ein Schüler zieht sich zurück, um allein über ein Problem nachzudenken. Dann tauscht er sich mit anderen aus und präsentiert das Ergebnis schließlich in einer größeren Gruppe. Für jede dieser Lernsituationen sollte die Lernumgebung atmosphärisch und unter gestalterischen Gesichtspunkten lernförderlich sein. Spätestens der Austausch mit anderen und die Präsentation verlangen einen flexiblen Raum, der zusammen mit dem Mobiliar einen schnellen Wechsel von Lernsituationen zulässt. Neue Choreografien des Lernens erfordern eben auch eine neue Choreografie der Lernräume.


In Schulen wird ja nicht nur gelernt, sondern auch gelehrt …

…und wie die Schülerinnen und Schüler verbringen die Lehrkräfte zunehmend mehr Zeit in der Schule. Natürlich haben auch sie Anspruch auf hochwertige Arbeitsplätze. Spätestens im Ganztagsbetrieb sollte jede Lehrkraft zum Beispiel zusätzlich zu Teamarbeitsmöglichkeiten für Besprechungen oder gemeinsame Unterrichtsvorbereitungen über einen Einzelarbeitsplatz mit Computer oder Laptop verfügen. Selbstverständlich gehören hierzu auch ansprechende Räume, die zum Rückzug beispielsweise in der unterrichtsfreien Zeit einladen - das ist Gesundheits-management in Aktion.


Gibt es so etwas wie "Gütekriterien"?

Gewiss. Jedes Schulgebäude sollte gewissen Mindeststandards entsprechen. Dazu gehört vor allem eine gute Raumakustik, da Lernen vielfach über Dialog und Austausch erfolgt. Ebenso eine funktionierende Luftzirkulation und ausreichend Tageslicht in allen Lernräumen. Schulgebäude strahlen eine Offenheit aus, wenn generell viel Wert auf Transparenz gelegt wird. Bei aller Offenheit sollte es aber auch immer abgeschirmte Rückzugsnischen geben, die Geborgenheit vermitteln.

Spätestens im Ganztagsbetrieb sollten Räume geschaffen werden, die zum Rückzug in der unterrichtsfreien Zeit einladen.

Spätestens im Ganztagsbetrieb sollten Räume geschaffen werden, die zum Rückzug in der unterrichtsfreien Zeit einladen.

Hat die Pädagogik heute größeren Einfluss auf Bauprojekte als früher?
Ja. Das pädagogische Konzept der Schule muss heute der Ausgangspunkt der planerischen Überlegungen sein. Insofern sollte jede Baumaßnahme auch dazu genutzt werden, das eigene pädagogische Profil zu reflektieren, fortzuschreiben oder sogar neu aufzustellen, um daraus Anforderungen an die Gestaltung des Neu- oder Umbaus zu formulieren. Zugegeben: Das macht Arbeit; es stellt aber sicher, dass Planung und Bau später die richtige Richtung nehmen. Zu den zentralen Fragen, die beantwortet werden müssen, gehören zum Beispiel: Welche Lernkultur liegt der schulischen Arbeit zugrunde? Werden Einheiten geschaffen, in denen verschiedene Klassen mehrere Räume in Absprache gemeinsam nutzen - auch altersübergreifend? Auf welche Fachräume können wir verzichten zugunsten der Unterbringung in Mehrzweckräumen?

Und, nicht zuletzt, wo sollen die Lehrkräfte arbeiten, konferieren und beraten? Solche Fragen können nur individuell beantwortet werden. Jede Schule hat ihre eigenen Strukturen, Funktionsweisen und Rahmenbedingungen.


Wo und wie könnte hier die Partizipation innerhalb der Schule einsetzen?

Die Schule ist gut beraten, während des gesamten Bauprojekts alle Mitglieder der Schulgemeinschaft zu beteiligen. Sie sind wichtige Impulsgeber. Das gilt bei der Entwicklung der pädagogischen Konzeption und ebenso für die Planungsphase. So haben Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern in groß angelegten Workshops Pläne für die Gestaltung des Foyers, der Gemeinschaftsräume, der Cafeteria oder des Außenbereichs entwickelt. Kinder können im Unterricht Ideen für die Gestaltung ihres Lebensraums Schule entwickeln. Das stärkt die Identifikation mit der Schule nachhaltig.


Und wer sind die Akteure im Planungsprozess?

An Planung und Bau eines größeren Schulprojekts beteiligen sich die kommunale Verwaltung, Architekten, Vertreter der Schulgemeinschaft und wo immer möglich auch der Unfallversicherungsträger. Die Schulgemeinschaft, das könnte die Bau-AG der Schule sein, in der alle Nutzergruppen vertreten sind: neben der Schulleitung Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler und Elternvertreter. Unsere Erfahrung geht dahin, dass ein Bauvorhaben gelingen kann, wenn alle Seiten das Projekt von Anfang an gemeinsam entwickeln.


Wo werden die Weichen gestellt?

Eine entscheidende Rolle spielt die "Phase 0"- also die Zeit vor Beginn der konkreten Planung. Hier erfolgt der Abgleich zwischen schulischem Raumprogramm, architektonischen Möglichkeiten und nicht zuletzt kommunalen Belangen und Planungen. Ein Thema kann in diesem Zusammenhang die Öffnung der Schule zur Stadt beziehungsweise zum Stadtteil sein, etwa wenn die Kommune den Neubau als Bildungszentrum etablieren möchte. Oder sie bietet außerschulische Lernorte an - die Stadt öffnet sich der Schule.

Eine Herausforderung für die Architekten wird es sein, das neue Gebäude so zu planen, dass es "offen" ist für künftige Entwicklungen, zum Beispiel für neue pädagogische Anforderungen wie Inklusion. Angesichts sich verändernder Schülerzahlen müssen vor allem Neubauten heute zudem so multifunktional gebaut werden, dass sie mit überschaubarem Aufwand irgendwann umgewidmet werden können. Übrigens: Nach Abschluss der "Phase 0" ist die Mitwirkung der Schulgemeinde am Projekt nicht beendet. Die Bau AG begleitet das Projekt auch in der Realisierungsphase.

    Angesichts sich verändernder Schülerzahlen werden vor allem Neubauten multifunktional gebaut.

    Angesichts sich verändernder Schülerzahlen werden vor allem Neubauten multifunktional gebaut.

    Sind hier Interessenskonflikte nicht programmiert?
    Natürlich haben Verwaltungen, Schulen und Architekten unterschiedliche Interessen, Vorstellungen und Ideen. Und natürlich liegt hier ein gewisses Konfliktpotenzial. Tatsächlich können schon verschiedene Sprachmuster zu großen Missverständnissen und Hemmnissen führen. Umso wichtiger ist es, dass alle Beteiligten von den spezifischen Aufgaben der anderen wissen und ein Grundverständnis für deren Position und Zwänge entwickeln. Wir empfehlen daher dringend, bei größeren Bauprojekten einen Moderator hinzuzuziehen, zum Beispiel einen Schulentwickler, einen erfahrenen Planer beziehungsweise Architekten und bei größeren Vorhaben idealerweise diese beiden in einem Fachteam als Tandem.


    Und wie kann sich die Schule frühzeitig schlau machen?

    Gründliche Recherche und oftmals auch fachliche Beratung sind Voraussetzung für jede Schule, die bei einem Bauprojekt mitwirken will. Eine Fundgrube ist das Internet. Hier gibt es mittlerweile viele Beispiele für gut durchdachte Schularchitektur. Man wird schnell fündig. Ich kann Projektteilnehmern nur empfehlen zu reisen. Schulen zu besuchen, die schon Trends gesetzt haben. Der Blick über den eigenen Tellerrand kann sehr inspirierend sein.


    Für DGUV pluspunkt führte die Freie Journalistin Dorothee Otto das Interview mit Dr. Imhäuser.


    Montag Stiftungen

    Die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft ist eine eigenständige gemeinnützige Stiftung im Verbund der Montag Stiftungen mit Sitz in Bonn. Zusammen mit der Montag Stiftung Urbane Räume entwickelt sie innovative Ansätze für eine pädagogische Architektur und berät Schulträger und Schulen bei besonderen Bauprojekten (www.montag-stiftungen.de). Eine Hilfestellung für alle am Schulbau Beteiligten ist das von den beiden Stiftungen herausgegebene Buch "Schulen planen und bauen. Grundlagen und Prozesse", erschienen 2012 bei jovis Verlag Berlin und Friedrich Verlag Seelze. Es zeigt insbesondere Wege zur erfolgreichen Gestaltung der "Phase 0".



    Tipps für die Internetrecherche

    Im Internet gibt es inzwischen eine Reihe von Beispielen für gut gestaltete Lernräume und Lehrerarbeitsplätze, zum Beispiel unter:

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