Illustration: grafikdesign-weber.de

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Ins Gelingen verliebt sein

Seit diesem Schuljahr gibt es in Baden-Württemberg Gemeinschaftsschulen. Die Dreißentalschule im Ostalbkreis ist eine der ersten Einrichtungen, an denen mehrere Bildungsabschlüsse gemacht werden können - und ein neues Lernen erprobt wird.


An der Dreißentalschule gibt es seit Beginn dieses Schuljahres keine Lehrerinnen und Lehrer mehr - und auch keine Schülerinnen und Schüler. Die Schule wurde nicht geschlossen, doch den Unterricht erteilen jetzt Lernbegleiter. Es sind die ehemaligen Lehrkräfte, doch sie dozieren nicht von vorn an der Tafel, sondern setzen sich neben die Schüler, die jetzt Lernpartner sind, und unterstützen sie individuell bei jedem Lernschritt. Klassenzimmer gibt es auch nicht mehr. Die Räume heißen nun Lernatelier oder Input- Raum. Nicht nur die Namen sind neu - sondern das gesamte Lernen. Das alles ist gewöhnungsbedürftig, für die früheren Schüler, die Lehrer und auch für die Eltern, die immerhin noch Eltern heißen. Es hat sich viel verändert an der Dreißentalschule im schwäbischen Oberkochen, seitdem die ehemalige Grund- und Werkrealschule eine Gemeinschaftsschule geworden ist, eine von zunächst 42 Starterschulen in Baden-Württemberg. "Es ist ein Kraftakt", sagt Schulleiter Martin Latosinszky. Er und sein Kollegium haben in den vergangenen Wochen "bis zur Erschöpfung gearbeitet", um das neue Konzept umzusetzen. "Es ist ein Experiment", sagt der Bürgermeister von Oberkochen, Peter Traub. Für seine Stadt, die Schule, aber auch für die grün-rote Landesregierung.

Die Einführung der neuen Schulform, an der alle Abschlüsse bis hin zum Abitur möglich sein sollen, ist eines der größten Reformvorhaben im Land. Es könnte die Bildungslandschaft von Grund auf verändern. Nirgendwo sonst, außer in Bayern, ist die Tradition des dreigliedrigen Schulsystems so tief verankert wie in Baden-Württemberg. Die frühere Landesregierung hatte sich lange geweigert, daran zu rütteln, auch wenn Hauptschulklassen in vielen Regionen immer leerer wurden. Weil die Schülerzahlen insgesamt sinken und weil immer weniger Eltern ihr Kind auf einer Hauptschule anmelden wollen.


Unternehmen wollen vor Ort rekrutieren

Auch an der Dreißentalschule hat sich die Zahl der Fünftklässler seit den 90er Jahren halbiert, zuletzt gab es nur noch 24 Anmeldungen. "Wenn wir alles so lassen würden, dann hätte bald nur noch jede dritte Gemeinde eine weiterführende Schule", sagt Norbert Zeller, Leiter der Stabsstelle Gemeinschaftsschule im Kultusministerium. "Das, was wir jetzt machen, ist ein Paradigmenwechsel." Einige Politiker schimpfen zwar über die "Einheitsschule", aber auf dem Lande gibt es nicht wenige Bürgermeister, die aus standortpolitischen Gründen lieber auf genau diese Schule setzen statt auf eine ausblutende Hauptschule. "Die Unternehmen wollen ihre Fachkräfte vor Ort rekrutieren, sie sind auf eine gut ausgebaute Schulinfrastruktur angewiesen", sagt der parteilose Bürgermeister Traub. "Das neue pädagogische Konzept kommt der beruflichen Bildung sehr entgegen", bestätigt Volker Thumm, Ausbildungsleiter beim Optikunternehmen Carl Zeiss in Oberkochen, "weil es auf selbstständiges Lernen setzt." Er verspricht sich davon nicht nur ein breiteres Fachkräfteangebot, sondern auch eine bessere Bildung.

Möbel ausgetauscht, Lernmethoden umgestellt
Denn an der Dreißentalschule haben sie zu Schuljahresbeginn nicht nur Möbel ausgetauscht und Räume umbenannt, sondern auch die Lernmethoden umgestellt. So sitzen die Schülerinnen und Schüler an Zweier- oder Vierer-Arbeitstischen, getrennt durch schwarze Regale, und konzentrieren sich auf ihre Aufgaben. Mit bunten Holzklötzchen signalisieren sie, ob sie Hilfe brauchen oder Mitschülern helfen können. Jeder Schüler führt ein Lerntagebuch mit einem wöchentlichen Arbeitsplan. Das Schulkollegium orientiert sich an dem Konzept der Freien Schule Anne-Sophie in Künzelsau, die von dem Schweizer Pädagogen Peter Fratton und der Unternehmerin Bettina Würth gegründet wurde. Im Vordergrund stehen vier Prinzipien: Respekt, autonomes Lernen, eine gestaltete Lernumgebung und das Motto "Ins Gelingen verliebt sein". Das Konzept ist anspruchsvoll: Auf Schülerseite erfordert es Eigenverantwortung, von den Lehrkräften verlangt es Engagement, von den Eltern erwartet es Vertrauen. Und von der Politik Geld. Doch genau hier hakt es. Die Gemeinde Oberkochen hat die Reform im letzten Jahr mit 130 000 Euro unterstützt, vor allem durch den Kauf neuer Möbel und Computer. Vom Land bekommt die Schule eine zusätzliche Lehrerstelle für den Ganztagsbetrieb, aber nur drei Stunden zusätzlich für die Gemeinschaftsschule. "Das ist sehr wenig", sagt Schulleiter Latosinszky, "da bräuchten wir mehr."


"Einhundert weitere Gemeinschaftsschulen"

Trotz der unklaren Finanzierung geht Zeller im Kultusministerium davon aus, dass in diesem Jahr "mindestens weitere hundert Gemeinschaftsschulen dazukommen werden". Schon für den ersten Durchlauf habe es "irrsinnig viele Anfragen" gegeben. Genehmigt wurden letztlich aber nur diejenigen, die ein schlüssiges pädagogisches Konzept vorlegten. "Wir wollen nicht, dass da einfach nur der Name über der Schule ausgetauscht wird", sagt Zeller, "es soll eine neue Lernkultur gelebt werden."

 

AUTOR

Marion Schmidt ist Bildungsjournalistin in Hamburg.

Peter Fratton
Wer die Pädagogik von Peter Fratton verstehen will, muss bereit sein, Schule völlig neu zu denken. Schon das Wort Schule kommt im Sprachschatz des 64- jährigen Schweizer Bildungsreformers nicht vor. Er spricht von Lernorten, Lernbegleitern und Lernpartnern. Wichtigste Bestandteile seines Konzepts sind das autonome Lernen und die gestaltete Lernumgebung. Schülerinnen und Schüler sollen selbstständig lernen und dies in einem Umfeld, in dem sie sich wohlfühlen. Fratton benennt vier pädagogische Urprinzipien: "Bringe mir nichts bei. Erkläre mir nicht. Erziehe mich nicht. Motiviere mich nicht." Inzwischen ist der von ihm mitgegründete Bildungsanbieter SBW (Schule für Beruf und Weiterbildung) mit dem Konzept an vielen Orten weltweit vertreten. Die Grundschule "Primaria" in St. Gallen ist eine Art Pilgerstätte für deutsche Bildungsreformer geworden. Auch die Unternehmerin Bettina Würth ließ sich vor einigen Jahren von der Schule begeistern; sie holte Fratton als Berater für die von ihr gegründete Freie Schule Anne Sophie in Künzelsau als Berater. Ebenso das baden-württembergische Kultusministerium lässt sich bei der Einführung der Gemeinschaftsschule von Fratton beraten.

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