Portrait von Marion Müller-Staske. Sie ist Schulpsychologin im Staatlichen Schulamt für den Main-Kinzig-Kreis. Sie berät und begleitet Klassen, Lehrkräfte und Eltern bei Suizidfällen in Schulen. Sie bietet Fortbildungen für Lehrkräfte zum Thema "Suizidalität und Schule" an und ist auch verantwortlich für die "Landesweite Koordination der Krisenintervention und im Bedrohungsmanagement" beim Hessischen Kultusministerium.

Foto: Dominik Buschardt

„Suizidale Äußerungen ernst nehmen“


Dass junge Menschen ihrem Leben ein Ende setzen, kommt leider nicht so selten vor. Suizid ist die zweithäufigste Todesursache bei jungen Menschen bis 25 Jahren. Warum Lehrkräfte in der Suizidprävention eine Schlüsselrolle spielen, erklärt Schulpsychologin Marion Müller- Staske.


Frau Müller-Staske, gibt es Warnsignale für drohende Suizide?


Zu spezifischen Warnhinweisen zählen unternommene Suizidversuche und das Reden über einen geplanten Suizid. Oder jemand beschäftigt sich intensiv mit dem Sterben, trifft Vorbereitungen oder verschenkt wichtige Dinge. Daneben gibt es unspezifische Hinweise wie etwa Rückzug, Alkoholkonsum oder Ess- und Schlafstörungen. Diese können aber auch auf ganz andere Problematiken hinweisen.


Was empfehlen Sie Lehrkräften, wenn sie ernste Warnsignale beobachten?


Es gibt die Vorstellung: Wer über Suizid spricht, der tötet sich nicht. Das ist falsch. Vielmehr sollte jede suizidale Äußerung ernst genommen werden. Ich lege Lehrkräften, die nahe bei den Schülerinnen und Schülern sind, sehr ans Herz, betroffenen Jugendlichen Gesprächsangebote zu machen. Das ist wichtig, wenn Jugendliche selbst gerade keinen anderen Ausweg mehr sehen können.


Warum ist ein Gesprächsangebot aus Ihrer Sicht so wichtig?


Die wenigsten Kinder und Jugendlichen wollen sterben. Sie sehen nur keine andere Lösung für ihre Probleme. Mit Gesprächen über Lösungen und Unterstützung lässt sich mancher Suizid vermeiden. Im Umkehrschluss heißt das aber nicht, dass sich jeder Suizid verhindern lässt.


Wie sollte ein Gespräch zwischen Lehrkraft und Jugendlichen ablaufen?


Als Lehrkraft sollte man sich dem Thema unaufgeregt und wertfrei nähern. Sonst brechen Jugendliche den Kontakt schnell ab. Man sollte Ich-Botschaften senden: ‚Ich habe beobachtet, dass es dir nicht gut geht. Ich mache mir Sorgen und würde gerne mit dir darüber ins Gespräch kommen.‘ Dann sollte man konkret danach fragen, ob es Suizidgedanken gibt: ‚Hast du schon mal daran gedacht, dich selbst zu töten, hast du dir Gedanken zu Methoden gemacht?‘ So erhält man Hinweise, ob sich ein suizidaler Wunsch verdichtet hat.


Könnten diese Fragen nach Suizidgedanken nicht verängstigend wirken?


Nein, die Schülerinnen und Schüler beschreiben solche Gespräche häufig als eine große Entlastung und sind oft froh, wenn sich Lehrkräfte als Gesprächspartner anbieten.


Was wären weitere Aspekte?


Man sollte nach Schutz- und Risikofaktoren fragen. Gibt es ein stabiles Elternhaus, einen funktionalen Freundeskreis, stabile Bezugspersonen, ein Geschwisterkind? Oder vielleicht ein Tier, um das sich gekümmert wird?


Nicht jede Person fühlt sich in der Lage, solche Gespräche zu führen.


Wenn Lehrkräfte aufgrund eigener Überzeugungen oder Erfahrungen sagen: Ich trau mir das nicht zu, ich kann das nicht, dann ist das absolut professionell. Aber es wäre dann notwendig zu schauen: Welche andere Person hat einen guten Draht? Selbstverständlich kann man sich Unterstützung bei der Schulseelsorge, bei Beratungslehrkräften oder der Schulpsychologie holen.


Was sind die nächsten Schritte nach einem Gespräch?


Ich empfehle, Schulleitung und die Klassenlehrkraft einzubinden. Und die gewonnenen Beobachtungen im Kollegium abzugleichen. Das hilft einzuschätzen, ob es sich um punktuelle oder grundsätzliche Probleme handelt.


Und was ist zu tun, wenn eine suizidale Entwicklung erkennbar ist?


Viele Jugendliche haben die Sorge, dass sie ‚weggesperrt‘ werden, wenn sie Suizidgedanken äußern. Unsere Idee ist, ein Zwischenfenster für Gespräche und Beratungen zu ermöglichen. Doch wenn sich jemand nicht von seinen nachhaltigen Suizidabsichten abbringen lässt, müssen die Eltern benachrichtigt werden und ihr Kind in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorstellen. Ausnahme: Der familiäre Hintergrund ist Teil des Problems – dann geht es um Kinderschutz, das muss gut abgewägt werden.


Und wenn die Lehrkraft meint, es hat sich eine positive Perspektive entwickelt?


Wenn man eine Vereinbarung getroffen hat, sollte sich der Schüler oder die Schülerin klar von einem geplanten Suizid distanzieren. Wenn man unsicher ist, wie das Fazit des Gesprächs einzuschätzen ist, kann man z. B. die Schulpsychologie hinzuziehen.


Kann das Sprechen über Suizid eigentlich eine Selbsttötung befördern oder auslösen?


Forschungen zeigen, dass das ein Mythos ist. Die beste Suizidprävention ist es, ins Gespräch zu kommen und Lösungswege aus vermeintlich ausweglosen Lebenssituationen zu erarbeiten.

Suizid in Schulen

  • Seit 2014 wird dokumentiert, wie oft das schulpsychologische Kriseninterventionsteam an hessische Schulen gerufen wird. Hessenweit gibt es jährlich 80 bis 140 Einsätze, davon stehen etwa ein Drittel der Fälle im Kontext Suizidalität. Dabei handelt es sich um Suizide, Suizidversuche und -äußerungen.
  • Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes ist Suizid die zweithäufigste Todesursache in der Altersgruppe bis 25 Jahre.
  • Die jeweiligen Ministerien haben Ordner zur Krisenintervention entwickelt, die in den Schulen bereitstehen.


René de Ridder, Redakteur (Universum Verlag), Wiesbaden

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