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„Wer sich psychisch wohl fühlt, verletzt sich weniger“

  • Bundesweite Langzeitstudie untersucht Zusammenhang von emotionalem Befinden und Unfallgeschehen im Schulkontext
  • Psychisches Wohlbefinden birgt erhebliche Präventionspotenziale
  • Bemerkenswert: Vereinssport kann die Risikobereitschaft und in der Konsequenz das Verletzungsrisiko erhöhen

 

Herr Professor Klocke, gibt es eine Erkenntnis der Studie, die Sie überrascht hat?!

 

Ein markantes Ergebnis ist, dass Kinder, die außerhalb der Schule sportlich aktiv sind, häufiger Verletzungen im Schulkontext erleiden. Man würde erwarten, dass sich die Sportlicheren seltener verletzen, aber sie haben offensichtlich einen hohen Leistungsanspruch an sich, gehen höhere Risiken ein und legen die Hürde immer noch ein bisschen höher. Die sogenannten Sportmuffel sind vorsichtiger. Zur Unfallvermeidung benötigen also auch sportlich aktive Jugendliche im Schulsport die Aufmerksamkeit von Lehrkräften.

 

Was ist die zentrale Aussage der Studie?

 

Psychische Gesundheit, emotionale Geborgenheit und Zugehörigkeitsgefühl haben allerhöchste Bedeutung, wenn es darum geht, die Verletzungswahrscheinlichkeit zu reduzieren. Wir können den Zusammenhang statistisch sehr genau berechnen: Hatte das individuelle emotionale Wohlbefinden in den vergangenen Jahren zugenommen, reduzierte sich die Verletzungswahrscheinlichkeit signifikant. Denn Schülerinnen und Schüler, die sich sozial geborgen fühlen, kommen mit Belastungen deutlich besser zurecht und sind konzentrierter, zum Beispiel auch im Schulsport.

 

Welche Bereiche haben Sie untersucht?

 

Wir haben ausschließlich das Verletzungsgeschehen im Umfeld der Schule untersucht, nicht in der Freizeit. Dabei haben wir unterschieden nach Schulweg, Gebäude und Schulhof sowie Schulsport. Aufgenommen wurden nur Verletzungen, die der Schulgesundheitsdienst, ein Arzt oder eine Ärztin behandelt hat. Unser Fragebogen erfasste den physischen und mentalen Gesundheitszustand der Schülerinnen und Schüler, außerdem deren vereinssportliche Aktivitäten und das individuelle Risikoverhalten.

 

Welche Faktoren beeinflussen die psychische Verfassung?

 

Für das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen ist es wichtig dazuzugehören, mit ihren Mitschülern und Mitschülerinnen klarzukommen, gute Freunde zu haben und umgekehrt nicht gemobbt zu werden. Einfluss haben aber auch ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Eltern und genügend Schlaf. Schlafmangel spiegelt sich beispielsweise in einem erhöhten Verletzungsrisiko wider.

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Präventionsarbeit an Schulen?

 

Sämtliche Maßnahmen, die die emotionale Befindlichkeit der Kinder stärken, haben allergrößte Bedeutung. Zunächst sollte ein vertrauensvolles Verhältnis zur Schule und zu einzelnen Lehrkräften aufgebaut werden. Hierbei spielen auch die Sozialarbeit, Vertrauenslehrkräfte oder der schulpsychologische Dienst eine große Rolle. Aber was wir deutlich fördern und unterstützen möchten, sind der Einsatz bewährter Programme wie etwa MindMatters (www.mindmatters-schule.de). Sie sind mit ihrer präventiven Zielsetzung genau an Bildungseinrichtungen adressiert und unterstützen ein verbessertes Sozialklima, wir nennen es auch soziales Kapital. Das ist sehr wirksam, wie wir mit Blick auf unsere Längsschnittdaten sagen können.

 

Was war der Anlass für Ihre Studie?

 

Wir haben zwar eine Reihe von Informationen über das Unfallgeschehen im Schulkontext, wissen aber nichts über die jungen Menschen, die sich nicht verletzen. Diese beiden Gruppen zu vergleichen und daraus Erkenntnisse für die Unfallprävention zu gewinnen, war eines unserer Anliegen. Darüber hinaus wollten wir Variablen wie die psychische Befindlichkeit abfragen, die in der Unfallstatistik nicht auftauchen. Davon versprachen wir uns zusätzliche Erkenntnisse, potentiellen Unfallursachen auf die Spur zu kommen.

 

Wie sind Sie vorgegangen?

 

Wir haben bundesweit etwa 10.000 Kinder der Jahrgangsstufen fünf bis zehn insgesamt sechsmal im Jahresabstand befragt. Besonders am Herzen lag uns der Charakter der Studie: Da sie in einer Panelstudie dasselbe Kind wiederholt befragen, lassen sich Verläufe und Veränderungen anhand von Ursachen kausal interpretieren. Das bietet ein großes Potenzial und war unser zentrales Ziel. In einer Querschnittsstudie, also einer Einmalbefragung, erhält man hingegen eine Momentaufnahme, die von aktuellen Einflüssen bestimmt sein und in wenigen Monaten ganz anders aussehen kann.

 

Was hat Sie sonst noch erstaunt?

 

Dass die Schule an sich einen so geringen Einfluss auf das Unfallgeschehen hat. Maximal sechs Prozent der Verletzungsvarianz liegen auf der Schulebene, ein Drittel auf der Ebene des einzelnen Kindes. Die Individualebene hebt sich also deutlich hervor.

 

Wie können Sie das errechnen?

 

Anhand sogenannter hierarchischer Daten. Wenn Sie eine Schülerin oder einen Schüler befragen, erhalten Sie Informationen auf der Ebene des individuellen Kindes. Wir haben aber Kinder in der Schulklasse befragt, die als Einheit auch Einfluss auf das emotionale Befinden hat. Hinzu kommen Informationen über die Schule und die Region oder das Bundesland. So kann man ganz konkret untersuchen, wo die größte Varianzaufklärung liegt – nämlich auf der Ebene des einzelnen Kindes. Alles weist also darauf hin, dass das emotionale, psychische Wohlbefinden in der Prävention im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen sollte. Denn in der Gesamtsituation ist die Ebene des Kindes entscheidend, nicht so sehr die Schule.

Verändert sich das Unfallgeschehen im Laufe des Alters?

 

Ja, deutlich. Die jüngsten Kinder haben die meisten Unfälle auf dem Schulhof, beim Spielen und Toben. Das nimmt mit dem Älterwerden ab. Mit 14 oder 15 kommt es dann häufiger zu Verletzungen im Schulsport und auf dem Schulweg. Wir konnten eine markante Veränderung feststellen, sobald Schülerinnen und Schüler eigenständig den Schulweg antreten.

 

Welchen Einfluss hat die Wahl des Verkehrsmittels für den Schulweg auf das Unfallgeschehen?

 

Fahrradfahren ist eine riskante Größe. Ein Fahrradhelm wirkt zwar gut, aber leider tragen mit zunehmendem Alter weniger Kinder oder Jugendliche einen Helm, das wird als uncool aufgefasst. Könnte man daran etwas ändern, wäre viel gewonnen.

 

Infos zur Studie

 

  • Im Rahmen der Studie „Gesundheitsverhalten und Unfallgeschehen im Schulalter“ hat ein Team um Professor Dr. Andreas Klocke und Dr. Sven Stadtmüller in sechs Erhebungswellen bundesweit (außer in Bayern und Hamburg) rund 10.000 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen fünf bis zehn befragt.
  • Die repräsentative Paneluntersuchung befasste sich mit Themenclustern wie physische und psychische Gesundheit, Schlafdauer, körperliche Aktivität und Risikoverhalten, Merkmale des Schulkindes sowie der Mitschülerinnen und -schüler, Zustand der Schule.
  • Fazit: Der stärkste protektive Faktor ist emotionales Wohlbefinden. Dessen Verbesserung reduziert die Verletzungswahrscheinlichkeit im Schulsport um bis zu 12 Prozent, auf dem Schulhof oder im Schulgebäude um bis zu 24 Prozent, auf dem Schulweg um bis zu 27 Prozent.

 

Mehr zur Studie: https://fzdw.de/projekte/gus

 

Mehr zum Thema:

 

„MindMatters“, Programm zur psychischen Gesundheit in der Schule der Leuphana Universität Lüneburg: www.mindmatters-schule.de

 

 

Prof. Dr. Andreas Klocke ist Professor für Allgemeine Soziologie und leitet seit 2007 als geschäftsführender Direktor das interdisziplinäre Forschungszentrum Demografischer Wandel (FZDW) an der Frankfurt University of Applied Sciences.
Mehr: www.fzdw.de

 

 

Autorin: Susanne Dietrich, freie Journalistin

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