Illustration: Christian Hückstädt

"Go straight" im Klassenzimmer

Mangelnde Frustrationstoleranz und aggressives Verhalten von Schülerseite belasten die Gesundheit von Lehrkräft en. Kurt Thünemann rät: Grenzen setzen, unerwünschtes Verhalten rückmelden, Streit aushalten und die eigene Persönlichkeit gut kennenlernen. DGUV pluspunkt begleitete den Krisenkompetenztrainer bei einer Fortbildung des Landesschulamts Sachsen-Anhalt.

 

Knapp zwei Meter groß, breites Handballerkreuz, selbstbewusst: Der Mann wirkt nicht wie jemand, der schnell zum Opfer wird. Kurt Thünemann erinnert sich, wie ihn Sarah in die Bedrouille brachte. Vor versammelter Klasse ätzte die Schülerin: "Die Haare trägt man in Ihrem Alter nicht mehr so, wissen Sie das nicht?" Das als schwierig geltende Mädchen spottete weiter: "Sie haben aber auch ein bisschen zugenommen?" Der Sozialpädagoge verbat sich diese Äußerungen. Doch er spürte: Die Schülerin hatte ihn an einem wunden Punkt getroff en. Grenzverletzendes Verhalten kennen einige Teilnehmer des Krisenkompetenztrainings "Go straight" nur zu gut. Die Sonderpädagogen unterrichten Jugendliche, die einen Förderbedarf in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung haben. Die Fragestellungen der Fortbildung lauten: Wie gehe ich professionell mit Unterrichtsstörungen,Verweigerungen oder übergriffigem Verhalten um? Und wie kann wertschätzendes Verhalten auch in schwierigen Situationen stets die Grundlage bleiben?

 

Mehr Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten?
Belastbare Pädagogen sind in vielen Schulformen gefragt. "In der Wahrnehmung vieler Lehrer gibt es immer häufi ger Jugendliche mit Verhaltensproblemen", hat Thünemann bei seinen Einsätzen beobachtet. Doch Ärger zwischen Lehrer- und Schülerseite, gehörte das nicht schon immer zum Schulalltag? Der Sozialpädagoge schüttelt den Kopf: "Im Gegensatz zu früher reagiert ein Teil der Schülerschaft heutzutage aggressiv auf Grenzsetzungen und klare Ansagen." Lehrkräfte sind teils mit Jugendlichen konfrontiert, die auf Grenzsetzungen und Leistungsanforderungen emotional erregt mit Stampfen, Weinen oder Schlagen reagieren.

Die Ursachen sind komplex. Für Thünemann liegen sie unter anderem in einer allzu schnellen Bedürfnisbefriedigung durch Eltern und im wachsenden Einfluss der neuen Medien, die dazu führen, dass manche Kinder und Jugendliche es nicht gelernt haben, zeitweilig Mangel und Frust auszuhalten. Die Perspektive des Erziehungswissenschaftlers auf eine veränderte Kindheit und Jugend ist geprägt von den Ansätzen der Psychiater Dr. Michael Winterhoff und Dr. Khalid Murafi, Chefarzt der Fachklinik für Kinder und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Walstedde. Für betroff ene Kinder und Jugendliche werden spezielle Sozialkompetenztrainings angeboten.

 

"Fordern Sie Strukturen ein!"
Doch wie sollen sich Lehrkräft e konkret verhalten? Der Sozialpädagoge empfiehlt, den Manipulationsversuchen der Schülerinnen und Schüler Grenzen zu setzen. Und klar zu machen, was erwünschtes und unerwünschtes Verhalten ist: "Fordern Sie Strukturen ein, auch wenn es Widerstände provoziert. Und machen Sie nicht ihr Lebensglück von der Zuneigung der Jugendlichen abhängig!"

Konflikte im Klassenzimmer wertschätzend und grenzsetzend auszuhalten, zählt zu den großen Herausforderungen des Lehrerberufs. Foto: getty images

Tun sich Jugendliche äußerst schwer mit Grenzsetzungen, ist Fingerspitzengefühl gefragt. So kann in Ausnahmefällen auch Nachgiebigkeit das Mittel der Wahl sein. Lehrkräft e sollten in solchen Fällen aber keinesfalls ihre pädagogische Selbstwirksamkeit in Frage stellen. Thünemann: "Akzeptieren Sie, dass Jugendliche sich eben nicht jederzeit so verhalten, wie Sie es sich wünschen."

 

Nicht jede Situation allein bewältigen
Auf welche Weise Lehrkräfte schulische Konflikte wahrnehmen, ist wichtig. Ein als konfliktreich erlebter Schullalltag kann für die eigene Gesundheit Folgen haben, weil die neurobiologischen Stress-Systeme von Pädagogen angekurbelt werden und das Risiko für psychosomatische Erkrankungen, Burnout oder Depressionen steigt. Wie sehr Auseinandersetzungen im Klassenraum die Lehrergesundheit belasten können, zeigen auch die Ergebnisse einer Studie der Uniklinik Freiburg. Kracht es heftig, sollten sich Lehrerinnen und Lehrer kollegialen Rat suchen. "Verabschieden Sie sich von der Fantasie, jede schwierige Situation allein zu bewältigen", sagt Thünemann. Professioneller ist es, sich Unterstützung zu holen und Kollegen um Feedback zu bitten. Mit ins Boot geholt werden können zudem Schulleiterinnen und Schulleiter, Eltern sowie schulpsychologische Beratungsstellen. Off en zu sein für die Sichtweisen und Anregungen Dritter entspricht auch dem sich wandelnden Rollenbild des Berufs, bei dem Begriffe wie Lehrerpersönlichkeit und Selbstwirksamkeit immer stärker ins Zentrum rücken. Dabei hilft ein Schulklima, in dem Konfliktbewältigung nicht als Versagen des einzelnen Pädagogen, sondern als anspruchsvolle und gemeinschaftliche Aufgabe eines Beziehungsberufs gilt.

 

Über Selbsterfahrung mehr Souveränität erlangen
Selbsterfahrung ist für Lehrkräfte aus Thünemanns Sicht ein guter Weg, um mehr Souveränität bei Konflikten zu gewinnen. "Erkunden Sie Ihre ‚Einfallstore‘, an denen Sie persönlich empfindlich reagieren. Jugendliche haben oft Sensoren für die neuralgischen Punkte ihres Gegenübers." Eine weitere Möglichkeit, die fachliche Kompetenz und eigene Gesundheit zu stärken, ist die Teilnahme an Programmen zum Umgang mit schwierigen Schülern und zur Gewaltprävention. Dabei können Lehrkräfte klare Grenzsetzungsprozesse für den Praxisalltag in der Schule einüben. Authentisch, konkret und fähig, Gefühle, Stärken und Schwächen zu benennen, all das wären Eigenschaft en einer idealen Lehrkraft. Sie sollte Konflikte wertschätzend und grenzsetzend aushalten, Brücken bauen, konsequent bleiben und Jugendlichen ernstgemeinte Beziehungsangebote unterbreiten.

 

Zur Person
Kurt Thünemann ist Geschäftsführer der win2win Gesellschaft für Prävention in Oldenburg. Der Sozialpädagoge, Erziehungswissenschaft ler und ehemalige Polizeibeamte ist seit 30 Jahren in der sozialen Arbeit und seit zehn Jahren unter anderem in der Lehrerfortbildung und in Personaltrainings im Non-Profitbereich tätig.

 

Krankmacher Aggression
Offene Feindseligkeit, schwere Beleidigungen und Aggressivität von Schülerseite sind unter vielen berücksichtigten Einflüssen der Faktor, der bei weitem am stärksten die Lehrergesundheit belastet. Dies zeigte eine Studie der Universitätsklinik Freiburg. Laut der Studie helfen positive Rückmeldungen von Schülerinnen und Schülern, Eltern und Kollegen, gutes kollegiales Miteinander sowie ein gutes Schulklima, die Gesundheit zu schützen.

 

Wo finde ich Hilfe und weitere Unterstützung zum Thema Lehrergesundheit?

  • Die Schulpsychologie ist zuständig für die Beratung von einzelnen Lehrkräften und Lehrerteams und bietet Fortbildungen an. Weitere Informationen im Internet unter www.schulpsychologie.de
  • Auf den Bildungsservern der Länder fi nden sich Kontakte zu Betriebsärzten und Fachkräften für Arbeitssicherheit, die für die Arbeitssicherheit und den Gesundheitsschutz in der Schule zuständig sind. Außerdem wird über Fortbildungen und Projekte informiert.
  • Die Unfallkassen sind zuständig für arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren, Unfälle und "Berufskrankheiten". Zudem gibt es umfangreiche Präventionsangebote, Publikationen, Unterrichtsmaterialien und Fortbildungen unter www.dguv.de.
  • Eine Übersicht zu aktuellen Forschungen, Publikationen sowie Präventions- und Interventionsangeboten zum Thema Lehrergesundheit gibt es unter www.handbuch-lehrergesundheit.de.

 

Literaturtipps

  • Franz Petermann u. a.: Sozialtraining in der Schule. Beltz 2012
  • Kurt Thünemann, Denise Weßel- Therhorn: KrisenKompetenzTraining - go straight
  • Kurt Thünemann u. a.: Deeskalations Organisations Modell - DOM ... wie Institutionen besser mit Krisen umgehen können
  • Khalid Murafi u. a.: Klinischer Pädagoge (erscheint voraussichtlich Anfang 2014)
  • Kurt Thünemann: Burn.on! Das Arbeitsheft zur Lebens- und Arbeitsbalance
 

AUTOR

René de Ridder ist Redakteur bei DGUV pluspunkt.

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